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Titel
Auf dem Weg zur neoliberalen Wende?. Die Marktdiskurse der deutschen Christdemokratie und der britischen Konservativen in den 1970er-Jahren


Autor(en)
Beule, Peter
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (180)
Erschienen
Düsseldorf 2019: Droste Verlag
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bührer, München

Dass die „neoliberale Wende“ in Großbritannien wesentlich drastischer ausfiel als in der Bundesrepublik, ist keine neue Erkenntnis. Das weiß selbstverständlich auch Peter Beule. Die Lektüre der bei Michael Schneider in Bonn entstandenen Dissertation lohnt sich vor allem deshalb, weil Beule, der im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet, differenziert und schlüssig zu erklären vermag, warum in den 1980er-Jahren eine „weitgehende marktradikale Wende in Großbritannien stattfand, während sie in der Bundesrepublik (in einer solchen Intensität zumindest vorerst) ausblieb“ (S. 20). Er wählt für seine Untersuchung den Ansatz einer „vergleichenden, kulturgeschichtlich erweiterten Parteiengeschichtsschreibung“, den er für geeignet hält, „das Wechselverhältnis zwischen diskursiven und semantischen Verschiebungen und sozioökonomischem Wandel“ zu analysieren und nachzuvollziehen, „wie die Grenzen des Sagbaren und damit auch des Machbaren in den parteipolitischen Aushandlungsprozessen über die Ordnung des Verhältnisses zwischen Markt und Staat“ im „Umbruchsjahrzehnt“ der „langen“ 1970er Jahre „neu ausgelotet“ wurden (S. 32).

Da es den Politikern und Politikerinnen und ihren Mitstreitern aus Wissenschaft und Journalismus nicht zuletzt um die Eroberung der öffentlichen Deutungshoheit ging, machen publizierte Quellen – Broschüren, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, programmatische Stellungnahmen – einen großen Teil der Materialbasis aus. Daneben hat Beule die einschlägigen Bestände in den Archiven der Konservativen Partei und der Labour Party, die Thatcher Papers im Churchill Archives Centre in Cambridge und die Alfred Sherman Papers im Royal Holloway College der Universität London ausgewertet. Für die deutsche Seite hat er im Archiv für Christlich-Demokratische Politik und im Archiv der sozialen Demokratie recherchiert. Damit wird ein breites Spektrum von Quellengruppen erfasst: Dokumente, die für die breite Öffentlichkeit bestimmt waren, solche für den internen Gebrauch, explizit programmatische Papiere, Schlüsseltexte, Vorträge und Strategiepapiere einflussreicher neoliberaler Vordenker sowie Materialien von intellektuellen Wegbereitern und Parteiabteilungen, die sich „an der Schnittstelle zwischen den Parteien und der Sphäre der Wissenschaften“ befanden und für die Vermittlung zwischen den Marktdiskursen der Tories und der CDU und der neoliberalen „Außenwelt“ sorgten (S. 60).

Beule hat den Hauptteil seiner Darstellung entsprechend den drei ihn interessierenden Themenkomplexen gegliedert: erstens die Frage nach Gemeinsamkeiten bzw. Unterschieden in den „diskursiven Kontexten und nationalen Debattenstrukturen“ (S. 21), zweitens die „Differenz zwischen den Parteitraditionen der deutschen Christdemokratie und der britischen Konservativen mit Blick auf ihre Bedeutung für die Entwicklung der Marktdiskurse“ (S. 23) und drittens die Bemühungen um eine „Intellektualisierung und Professionalisierung“ (S. 25) der jeweiligen Politiken. Vorangestellt hat er ein Kapitel, in dem er zur „Klärung der Vorgeschichte und des Ausgangspunkts der im Hauptteil zu analysierenden Entwicklung der Marktdiskurse“ die „Grundzüge der Nachkriegsordnungen“ (S. 63) Großbritanniens und der Bundesrepublik und ihrer Marktdiskurse bis zum Ende der 1960er-Jahre rekapituliert. Wichtig mit Blick auf die spätere Entwicklung erscheint ihm, dass die Konservativen die von der Labour Party geschaffenen Grundlagen der britischen Nachkriegsordnung in den 1950er- und 1960er-Jahren akzeptierten und mitgestalteten, konkret den Wohlfahrtsstaat mit National Health Service, Vollbeschäftigung und seiner spezifischen Mischung von Privat- und Staatswirtschaft. In der Bundesrepublik setzte sich nach anfänglichem programmatisch-ordnungspolitischem Streit zwischen CDU und SPD rasch das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft durch, also ebenfalls eine Variante eines „gezähmten“ Kapitalismus. Margaret Thatcher, damals noch unter ihrem Mädchennamen Roberts, geißelte allerdings schon in den 1950er-Jahren Staatsunternehmen als „ideologische Verirrung“, während sie das freie Unternehmertum als „Motor wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands“ lobte (S. 91). Diese „in der konservativen Parteitradition angelegten marktradikalen Elemente“ drangen „in dem Moment voll durch, als die Wirkungslosigkeit keynesianischer Instrumente seit Ende der 1960er-Jahre deutlich zu Tage trat und die britische Nachkriegsordnung ins Wanken geriet“ (S. 124).

Im zweiten Kapitel geht es um das Ausmaß der Krisenwahrnehmung in den 1970er-Jahren und damit um die Intensität des „Strukturbruchs“. Beule zeichnet den „Verfallsdiskurs“ nach, „in welchem das außergewöhnlich stark ausgeprägte britische Krisenbewusstsein wurzelte“ (S. 138). Dieses Narrativ, das übrigens auch von radikalen Kräften in der Labour Party aufgegriffen wurde, stellte ein „überzeugendes Denkmuster für radikale Ordnungsvorstellungen“ (S. 139) dar. Die „thatcheristische Marktsprache“ zielte auf eine „dezidierte Abkehr von der mixed economy“ und erhob „den Konflikt geradezu zum politischen Prinzip“ (S. 162) – im deutlichen Unterschied zu den deutschen Christdemokraten, welche den „‚alten‘ Nachkriegskonsens“ nicht auflösen wollten, sondern die „Bewahrung“ des „Erfolgsmodells der Sozialen Marktwirtschaft“ (S. 191f.) forderten. Lediglich einzelne Politiker, allen voran Franz Josef Strauß, polemisierten gelegentlich gegen die „zum Klassenkampfdenken zurückkehrenden Sozialisten unseres Bonner Regimes“ (S. 211).

Der Fokus des dritten Kapitels liegt auf der Analyse der Rolle, die „Begriffstraditionen und semantische Pfadabhängigkeiten“ (S. 65) für die Aushandlungsprozesse der beiden Parteien spielten. Während die „thatcheristische Marktsprache“ auch „gegen die eigene Partei und ihr Establishment“ (S. 296) gerichtet war, konnte sie doch an bestimmte Motive der politischen Sprache der Tory-Partei wie „anti-collectivism“ oder „anti-statism“ anknüpfen. Die „Radikalisierung der konservativen Marktsprache seit Mitte der 1970er Jahre“ deutet Beule deshalb auch „weniger als Bruch mit der eigenen Parteitradition“, sondern als „Überhöhung eines schon in der Partei angelegten marktliberalen Elements“ (S. 300). Im Gegensatz dazu waren „weitreichenden Verschiebungen in Richtung ‚mehr Markt‘ im christdemokratischen Marktdiskurs“ nicht zuletzt aufgrund des „Korrektivs“ der Sozialausschüsse Grenzen gesetzt (S. 318).

Das vierte Kapitel nimmt die Bedeutung des internationalen Siegeszugs des neoliberalen Ordnungsmodells für die Entwicklung der Marktdiskurse in den Blick. Auch hier überwiegen die Unterschiede: Während im britischen Fall geradezu eine „Verschmelzung der Innenwelt“ der Konservativen mit der „neoliberalen Außenwelt“ (S. 372) beispielsweise in Gestalt einzelner Wirtschaftswissenschaftler oder Think Tanks zu konstatieren ist, existierten in der Bundesrepublik keine ähnlich einflussreichen neoliberalen „Denkfabriken“ und Netzwerke. Überdies blieb die „Planungsarbeit der Union“ doch fest in der Bundesgeschäftsstelle bzw. bei der parteinahen Konrad-Adenauer-Stiftung verankert (S. 398).

Beule liefert überzeugende Erklärungen für die unterschiedliche Intensität und Radikalität der „neoliberalen Wende“ in Großbritannien und der Bundesrepublik. Er schließt an neuere Forschungen zur politisch-ideologischen Dimension des Neoliberalismus an. Abgesehen von gelegentlichen Redundanzen und sprachlichen Umständlichkeiten bietet das Buch auch deswegen eine spannende Lektüre, weil die Konzentration auf die Debatten bei den Tories und den Christdemokraten interessante Details und Quellenfunde zu Tage fördert; so etwa die Warnung Norbert Blüms, damals Mitglied des CDU-Bundesvorstands, es „könne für die demokratische Entwicklung des Staates gefährlich sein, ‚den für alle verbindlichen Grundwert Freiheit in parteipolitischen Besitz zu überführen‘“ (S. 248) – eine Warnung, die seit 1976 nichts an Aktualität verloren hat.